Hausbesuche – Spuren und Fragmente

In einer globalisierten Welt gerät das Lokale zunehmend aus dem Fokus, Gesellschaften fragmentieren und die Gefahr, dass wir den Kontakt zu zentralen Fragen des Zusammenlebens verlieren, nimmt zu. Wer sind unsere Nachbarn? Was unterscheidet uns voneinander? Und was verbindet uns? Auf diese Leitgedanken habe ich meine Diplomarbeit "Hausbesuche – Spuren und Fragmente” aufgebaut. Am Ende wurde daraus ein Buch. Hier will ich einen Auszug  vorstellen.

Vielfalt im Gemeinsamen

Im Zentrum meines Projekts stand die Grundidee, dass “Kultur” [1] kein starres Konstrukt ist, sondern innerhalb und über die Grenzen der eigenen Lebenswelten hinaus stets neu verhandelt wird. Als theoretische Grundlage orientierte ich mich lose am Milieubegriff Bourdieus. Es lag nahe, dass ich dazu einen Blick in unterschiedliche Lebenswelten werfen muss. Also besuchte ich Menschen zuhause.

 

Um die Vielfalt im Gemeinsamen fotografisch darzustellen wählte ich einen Ansatz, den ich von Thomas Struths Familienportraits übernahm: Alle Familien sollten sich für einen Ort entscheiden, der für sie wichtig ist und sich so aufstellen oder hinsetzen, wie sie sich zueinander sehen.

 

Dabei war es mir wichtig, dass ein verstellender Ausdruck wie das reflexhafte Lächeln vermieden wird. Thomas Struths Ansatz, dass ein nicht lächelndes Portrait nochmal eine wahrhaftigere Ebene öffnet, hat mich dabei am meisten überzeugt, obwohl ich in Kauf nehmen musste, dass ein familiärer Habitus (des Fotografiertwerdens) damit unterdrückt werden könnte. 

 

Die gleichartigen Familienportraits kombinierte ich mit Stilleben und Orten in den Wohnungen der Familien, um der individuellen Erzählung der Familie einen wertschätzenden Rahmen zu geben. Denn "Dinge sind nie einfach da, sondern haben eine, meist mehrere Geschichten." [2]

 

Stoff für eine Fortsetzung

Im Laufe des Projekts, für das ich vier Monate Zeit hatte, wurde mir klar, dass ich die Ausgangsfrage weder befriedigend noch abschließend klären konnte. Das theoretische Problem war in der Frage selbst angelegt – wenn auch praktisch irrelevant: Wenn man davon ausgeht, dass sich Kultur im steten Wandel befindet, wie ist es dann möglich, ein statisches Medium wie die Fotografie zu verwenden, um eine Bestandsaufnahme zu erstellen? Die praktische Problemdimension wurde aber dringender: Um Vielfalt abzubilden muss man Vielfalt abbilden. In vier Monaten inklusive Projektentwicklung in einem berufsbegleitenden Studiengang war es kaum möglich, den allumfassenden Anspruch an das Projekt umzusetzen.

 

Vor allem aus dem letzten Grund entschloss ich mich dazu, das Projekt, durch das ich viele liebe Menschen kennenlernen durfte und das wegen der Pandemie nun erst einmal pausieren muss, als Langzeitprojekt fortzuführen.

 

Eine leicht angepasste Version des Textes wurde auch auf kwerfeldein.de veröffentlicht.

Quellen und Fußnoten

[1]: Zu Beginn existierte nur ein loser Alltagsbegriff, den ich mittlerweile konkretisiert habe. Geholfen hat mir dabei mein Zettelkasten. Kultur verstehe ich nach Nohl eher als Leitdifferenz zwischen kommunikativer Repräsentation und konjunktiver Verständigung verschiedener Erfahrungsräume. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

[2]: Praetorius-Rhein, Johannes / Wohl von Haselberg, Lea (2020): Einblendungen. Teil 2: Dinge. In: Medaon, Jg. 27. URL: http://www.medaon.de/pdf/medaon_27_praetorius-rhein_wohl_von_hasselberg.pdf (zuletzt aufgerufen am: 30.12.2020).

Kommentar schreiben

Kommentare: 0